Teil 2/4
Eine fast unglaubliche Reise

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Du hast vergessen, den Autopiloten einzuschalten? Thorsten schaut ungläubig und knipst eine ganz bestimmte Cappuccino-Maschine an, die im selben Chrom blitzt wie der Chrompfeil und daher besonders gut zur Innenausstattung passt.
Ich dachte, du fährst? Du sitzt doch am Steuer?
Peter, Thorsten und Münte waren aufgewacht, weil ihnen eine eisige Brise um die kaltgefrorenen Nasen geweht war. Thorsten blinzelt in Richtung einer verdächtig kargen Landmasse. Sie waren alle in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen, nachdem sie die in Amsterdam gekauften Poffertjes mit Vanillesoße zu Mittag gegessen hatten.

Wenn ich die rote Sonnenbrille aufziehe, werden dann die Eisbären da drüben zu Himbeeren?

Oha, sagt Peter, ich glaub, wir haben uns ein bisschen verfahren. Mal sehen. Er wirft einen Blick aufs Navi. Ja gut, äh, das ist jetzt wohl … Grönland. Da hat‘s uns ein bisschen nach Norden verdreht.
Passiert den Besten, denkt Münte. Columbus und so weiter.
Ein bisschen ist gut, lacht Thorsten mit einem nervösen Flackern in den Augen. Das sind schon so 2000 Kilometer ungefähr.
Ja nun, sagt Peter. Das passiert den Besten, stimmt’s Münte?
Jetzt klaut der Kerl mir meinen Spruch, denkt Münte.
Hat The Donald Grönland jetzt eigentlich gekauft oder nicht?, fragt Thorsten, dem einfällt, dass der gelbgelockte Fernsehmoderator und Expräsident solcherlei mal vorgehabt hatte, um an die Bodenschätze zu kommen.
Glaube nicht, erwidert Peter. Ich google mal. Größte Insel der Welt, 58.000 Einwohner*innen, das sind ja weniger als in Tübingen?! Von irgendwo sind es aber nur 26 km nach Kanada, dann sind wir ja eigentlich noch halbwegs auf Kurs. Es gibt hier ums Eck eine Stadt, die Ittoqqortoormiit heißt. Vielleicht bekommen wir da fermentierten Papageientaucher. Schmeckt wohl wie Gorgonzola.

Moment mal, sagt Thorsten und sieht dabei plötzlich aus wie diese Denkerskulptur von Rodin. Wohnt hier nicht auch der Weihnachtsmann?

Wenn wir den überreden, mit nach Chattanooga zu kommen, das wäre doch die dickste rote Kirsche auf der Sahne, die man sich nur vorstellen kann.
Ey, kein Bodyshaming!
Ne, mit dick meine ich doch nicht …
Tatsächlich, googelt Peter, in Nuuk wohnt der. Ach ne, das ist nur sein Postfach. Er wohnt am Nordpol im ewigen Eis. Das ist jetzt aber schon ein bisschen weit? Wieso wohnt der denn am Nordpol, da ist doch nur Wasser drunter. Am Südpol hätte er einen ganzen Kontinent, auf dem er stehen könnte. Außerdem ist es am Südpol viel kälter, da schmilzt so schnell nix. Gerade so in Sachen Erderwärmung wäre das doch viel sicherer.
Na ja, wenn du mit ein paar Millionen Stundenkilometern auf einem Rentierschlitten am Himmel langzischst, dann bist du wohl das, was die Jungspunds badass nennen. Ein bisschen Wasser unterm Hintern interessiert den Mann nicht.
Na ja, oder er ist doch eher so der Pudel-bei-Gefahr-Hochheber und Beim-Fußballgucken-Kamilleteetrinker und findet es am Südpol zu kalt?
Badass sagt doch niemand mehr, denkt Münte.
Ajunngilaq?, ruft da plötzlich jemand. Am Ufer steht ein Mann im Zweireiher und winkt ihnen zu.
Google übersetzt sofort: Alles in Ordnung, ihr Kaulquappen?
Imaqa, ruft Peter. Vielleicht.
Kaffee?, fragt‘s vom Ufer.
Und ob, ruft Thorsten, wirft den Anker und die drei Reisenden steigen aus. Fermentierter Papageientaucher ist aus, aber es gibt Pilzrisotto, was mindestens genauso gut ist. Man unterhält sich auf Englisch über das Top Gear Special, bei dem Jeremy Clarkson und James May im Auto zum Nordpol fahren, im Wettrennen mit einem Hundeschlitten und zwar, um zu beweisen, dass so eine Tour auch ohne fürchterliche Entbehrungen möglich ist. Wir spoilern nichts. Nachgucken kann man das hier.

Die Grönländer waren sich jedenfalls einig, dass es ganz allgemein kompletter Unsinn ist, bei minus 35 Grad über eine zerklüftete Eisfläche dahin zu fahren, wo außer Eis einfach überhaupt nichts ist.

Na doch, sagt Peter, da muss doch der Weihnachtsmann sein. Wir probieren das mal.
Vom Weihnachtsmann wussten die Grönländer nichts. Aber Festlandsüdländer waren schon immer seltsame Figuren, also wunderten sie sich nicht weiter als Thorsten das Amphibienfahrzeug an Land rollte.
Moment mal, hier gibt’s ja gar keine Straßen?
Das ist doch klar. Es liegt ja auch fast alles unter Eis. Das packt unser Auto schon.

Eine Voralpenschnellwandergruppe durchquert das Bild von links nach rechts. Vorne eine weißhaarige Frau in roten Stiefeln, die einen Schirm trägt und hopp hopp ruft. Offenbar ein Touristentrupp von einem Kreuzfahrtschiff. Die sind heutzutage ja überall.
Peter, Thorsten und Münte decken sich noch ein mit warmen Jacken, Thermoskannen und Astronautennahrung und schon geht’s los. 8 Stunden später sind die ersten 6 km geschafft. Die Landschaft ist zerklüftet wie das Gesicht irgendeines Dorfältesten und wehrt sich streng gegen jedes Befahrenwerden. Wir brauchen einen Hubschrauber, sagt Peter, sonst kommen wir zu spät nach Chattanooga. Die einzige Hubschrauberpilotin im Umkreis von 6 km ist in Ittoqqortoormiit, googelt Peter. Wir müssen zurück.

Hätten wir euch auch gleich sagen können, verraten die Gesichter der Ittoqqortoormiitianer, als unsere Helden weitere 8 Stunden später zurück sind. Aber die Menschen in Grönland sind viel zu freundlich und viel zu höflich, um das laut auszusprechen. Clarkson und Co. waren ja auch viel weiter nördlich gestartet und mit viel mehr Zeit ausgestattet.

Die Hubschrauberpilotin heißt Smilla und glaubt nicht an den Weihnachtsmann. Der einzige mit einem roten Mantel hier, denkt sie sich, ist schließlich Hundeschlittenschleifer Rune und der ist immer glattrasiert, dünn wie ein Strohhalm und zu verschenken hat er auch nichts.

Aber auch Smilla ist zu freundlich und zu höflich, um das laut auszusprechen. Es wird abgehoben. Münte ist skeptisch, so hoch in der Luft war er noch nie, das muss doch schiefgehen, denkt er sich, genießt aber nach einer Weile den Blick über die komplett vereisten Landmassen und vergisst, dass Hunde nicht fürs Fliegen gemacht sind (außer natürlich Flughunde, aber die sind ja eigentlich auch Mäuse).

Googel noch mal genau, wo der Weihnachtsmann zu finden ist, verlangt Thorsten und atmet kleine Wölkchen in die Luft. Was machen wir eigentlich, wenn der noch im Urlaub ist?
Dann fliegen wir halt ohne ihn wieder zurück. Hauptsache, wir haben es versucht. Peters Schnurrbart, der ihm inzwischen gewachsen war, weil er seinen Rasierer vergessen hat und Rasieren offenbar das Einzige ist, was das Amphibienauto nicht kann, der Schnurrbart also wippt im Wind und klirrt dabei, weil sich Eisperlen darin gebildet haben.

Die Reise mit dem Hubschrauber bietet den Blick über weite weiße Flächen und null Fauna. Nach vielen Zwischenstopps ist es dann soweit. Der Mittelpunkt der Arktis, der auch nicht anders aussieht als das viele Weiß zuvor, rückt in das Blickfeld unserer Helden.
Also, wenn hier der Weihnachtsmann abhängt, dann sehen wir den auf jeden Fall, sagt Thorsten. Zumindest, wenn er nicht gerade eisbadet. Ohne Kleidung verschwindet er bestimmt in der Landschaft mit seinem weißen Bart.
Da vorne staubt was, sagt Peter und hat recht. Da staubt wirklich was.
Bestimmt ein kleiner Schneesturm, mutmaßt Smilla, aber das ist kein Schneesturm, sondern ein Schlitten, der in wilder Fahrt Achten auf dem Eis kreist. Gezogen von 6 Rentieren. Hinten drauf ein ausladender Mann mit langen wehenden Haaren und einem … blauen Mantel.
Was macht der Typ da unten? Lande mal, sagt Thorsten und Smilla tut wie geheißen.
Rentiere, Fahrer und Schlitten bleiben stehen.

Was habt ihr denn gefrühstückt?, ruft ihnen der Mann im blauen Mantel entgegen. Ihr habt wohl nicht mehr alle Hühner im Regal!
Was hat der denn, fragen sich die drei Gelandeten.

Ihr habt meinen Adventskalender vom Schlitten geblasen, zefix nochmal.
Ach so. Tschuldigung, junger Mann, sagt Peter und hilft dem Mann, den Adventskalender wieder auf den Schlitten zu verpacken.
Sagen Sie mal, Sie sind nicht zufällig der Weihnachtsmann?
Wer will das wissen?
Ich. Und die hier auch.
Hat der Weihnachtsmann einen blauen Mantel an?
Vielleicht auch. Ist ja langweilig, das ganze Jahr rot zu tragen und hier sieht‘s ja gewöhnlich keiner.
Der Mann im blauen Mantel guckt verblüfft, wird rot im Gesicht und fängt wieder an zu zetern:
Hat man denn nirgends seine Ruhe? Reicht es nicht, dass ihr mir schreiben könnt? Müsst ihr mir jetzt auch noch zuhause auflauern? Fass, Blixem.
Blixem aber guckt nur blöd und hat offenbar überhaupt keine Lust, irgendwen zu fassen. Rentiere sind über so etwas erhaben. Fassen sollen andere und es reicht ja wohl, dass er sich hier die Lunge aus dem Leib rennen und fliegen muss. Das sagt sein Blick.
Manometer, echt mal hier, alles muss man selber machen, schreit der Blaumantel und schwingt einen rechten Haken Richtung Peter, der sich aber elegant duckt und dem Weihnachtsmann als Replik einen sauberen Jab unters Kinn legt.
Heiliger Bimbam, ruft der, wirft den blauen Mantel auf den Boden und es ergibt sich die herrlichste Rauferei, die der Nordpol je zu sehen bekommen hat. Die anderen schauen staunend zu wie in der Kampfwolke Ohren gezogen werden, Judowischer zur Aufführung kommen und Fäuste fliegen.
Nach einer Stunde legt sich der Eisstaub und am Boden sitzen japsend die zwei Raufbolde.
Fairer Kampf, sagt der Weihnachtsmann, denn das ist jetzt klar: Er ist es tatsächlich. Lass uns einen Wodka trinken und ihr erzählt mir endlich, warum ihr extra hierher propellert seid.

Der Weihnachtsmann zieht eine Fernbedienung aus seinem Mantel, drückt auf einen marsgelben Knopf und es öffnet sich eine unsichtbare Tür im Eis.

Dahinter tut sich eine unaufgeräumte Junggesellenbude auf, an deren Wand Plakate von irgendwelchen Basketballspielen hängen. Alle treten ein und kurze Zeit später kreist wärmend die Wodkaflasche.

Ihr wollt also, sagt der Weihnachtsmann, dass ich ein bisschen Glanz in eure Mauldäschle-Überraschung bringe. Was bietet ihr mir denn dafür? Ich habe schließlich noch Urlaub und mal eben Chattanooga, das ist ja auch nicht ums Eck.
Na ja, für dich doch schon, oder?
Ne ne ne, darum geht’s ja hier nicht. Ich will auch mal bei so einem Roadtrip dabei sein wie sie ihn in diesen ganzen Hollywoodfilmen machen, bei denen einsam die Landschaft an einem vorüberschwebt und man so richtig schön Zeit für einen Wegesrand-Burger hat. Ich will dieses ganze Entschleunigungsding, von dem alle immer reden.
Ja dann ist doch klar was für dich drin ist: Ein Platz in unserem Amphibienauto. Wir fahren zusammen nach Chattanooga und dann gibt’s viel Zeit für dich zum aus dem Fenster gucken. Aber im Auto wird nicht geraucht!

Kein Rauchen im Auto? So was gibt’s auch nur in Westeuropa. Essen wir lieber mal ein bisschen Hákarl.

Wie meinen?
Hákarl, das ist mein Lieblingsessen.
Es stellt sich raus, dass der Weihnachtsmann am liebsten fermentiertes Haifischfleisch isst. Schmeckt sehr salzig und hat eine gummiartige Konsistenz. Dazu reicht er israelisches Roggenbrot und kongolesischen Schnaps. Klar, der Mann ist Kosmopolit, denkt sich Münte. Eine aus Taktgründen nicht näher genannte Person unserer Reisegruppe verbringt im Anschluss dann aber die Nacht über dem Weihnachtsmann-Abort und brockt sich damit ein, dass das spontan komponierte One night in Santa's loo über die kommenden Tage zum Reiseohrwurm wird. Knirschendes Gelächter inbegriffen.

So kommt es, dass Thorsten, Peter, Münte und der Weihnachtsmann im von Bernfriede Öschterle erdachten und erstaunlich robusten Amphibienelektroauto erst Grönland von Mittelost nach Südwest durchqueren und dabei nur einmal von einem Eisbären und zwei Mal von einem großen fellbesetzten und sehr schlechtgelaunten Schneegeist, der verdächtig den Yetibeschreibungen der Himalaya-Sherpa ähnelt, durchgerüttelt werden und dann von Nuuk über die Labradorsee Richtung Neufundland aufbrechen, um am Ende an der kanadischen und amerikanischen Ostküste entlang nach New York zu schippern, wo es dann über Land Richtung Tennessee gehen soll. So jedenfalls der Plan, aber wir wissen ja alle, dass Pläne selten einfach so in Erfüllung gehen und dieser halt leider auch nicht.